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„Es geht darum, das richtige Wort
zu finden, nicht
seinen Cousin zweiten Grades.“

Mark Twain

Italien, trotz allem

Italien, trotz allem

Politisch wird’s immer schlimmer. Und selbst der Fussball reisst es nicht mehr raus. Aber Italien ist noch immer unschlagbar. Eine Beschönigung.

 

Der Mensch ist auf der Autobahn eine abhängiges Wesen: er scheint zwar autonom, doch irgendwann müssen Auto, Fahrer und Familie nachbetankt werden.  Ein Sechszylinder-Motor und ein Handy können zwar vieles, aber eben keinen Espresso kochen.

 

Da erheben Autobahnraststätten ihr hässliches Haupt, und mangels Alternativen wird der Autofahrer in kulinarische Geiselhaft genommen. Er bekommt einen Dreckskaffee vor die Nase geknallt, er soll ja eh weiterfahren und nicht wiederkommen. „Passant“, das bedeutet eben auch: vorübergehend.

 

Doch nicht in Italien, da sieht man die Sache mit dem Autobahn-Kaffee etwas anders. Die Italiener haben nämlich keine Nerven für schlechten Kaffee, und sie sehen auch keinen Sinn darin, grauenvolles Essen zu einem Geschäftsmodell auszubauen.

 

Von diesem Ethos profitieren nicht nur die Inländer, die jedes Jahr in Horden das Land queren, um Ferragosto an den Strand zu gelangen, sondern auch die Touristen aus dem Ausland. Sie kommen ja ohnehin mit turmhohen Erwartungen bezüglich Lebenslust und Kulinarik, und da ist zum Teil des italienischen Nationalcharmes geworden, dass sie bei ihrem ersten Stop nach der Grenze einen Espresso kriegen, der nicht nach verbranntem Plastic schmeckt, sondern fast so gut wie in einem echten Café in Neapel.

 

Die haben sich die Autogrills ja auch zum Vorbild genommen: es gibt eine lange Theke, piazzaartigen Lärm, Menschen, die mit ihren Bons nach ihren Bestellungen wedeln. Hier stehen Geschäftsmänner in Anzügen, Impresarios, die aus ihren Lambos geklettert sind, Mütter, Busladungen voller Teenager, Trucker und Bikerpaare nebeneinander. Der Autogrill ist der grosse Gleichmacher, das Demokratieversprechen, hier kriegt jeder für einen Euro (oder weniger) seinen Kaffee und ein bisschen Optimismus für die restliche Reise.

 

Die Geschichte des Autogrills begann, wie alle gute Liebesgeschichten, mit einem Keks: Der Bäckerssohn Mario Pavesi öffnete 1950 die Pavesi Autogrill Bar direkt an der Autobahn Mailand-Turin; es gab eine Bar, einige Tische, Sofas und eine kleine Veranda. Die Pavesini-Keksfabrik seiner Familie lag in der Nähe, und eigentlich sollten in der Bar nur die verschiedenen Kekse ausgestellt werden. Der Krieg war zwar erst einige Jahre vorbei, nur einer von hundert Italienern besass überhaupt ein Auto, doch Mario Pavesi war auf ein neues Lebensgefühl gestossen: die Kekse und die italienische Wirtschaft liefen so gut, dass aus seinem kleinen Experiment innerhalb weniger Jahre ein Millionen-Lira-Geschäftsmodell wurde.

 

Das zog auch die Konkurrenz an, und bald wetteiferten der Motta-Grill, die Alemagna Bars und der Pavesi Autogrill darum, wer der Platzhirsch an der Autostrada werden sollte. Ein guter Kaffee war ein Weg, um die Kunden an sich zu binden, doch erst mussten sie die Autofahrer überhaupt zum Abbiegen bewegen. Also bedienten sie sich eines weiteren Mittels: der Architektur. Der 1959 eröffnete Autogrill in Fiorenzuola d’Arda war eine spektakuläre Brücke quer über der Autobahn, vom Restaurant aus konnte man direkt den neuen Fortschritt blicken. Andere Autogrills erinnern mit ihren riesigen gebogenen Stahlkonstruktionen an Satellitenmodelle, die die James-Bond-hafte Fortschrittsgläubigkeit der sechziger Jahre wiederspiegeln. Im Autogrill Ronco Scrivio hing (und hängt heute noch immer) ein überdimensionierter Kronleuchter, unter dem weiss livrierte Kellner die Paninos servierten. „Italiens do it better“, das war lange der Leitspruch des anarchischen Unternehmers und Fiat-Erben Lapo Elkann, und hier, in der öden Brachlandschaft der Autostradas, bewahrheitet sich das irrwitzige italienische Streben nach Exzellenz.

 

Und egal ob brutalistische Betonklötze oder filigrane Raumfahrt-Zitate, die Autogrills waren das Gegenteil dessen, was die europäischen Nachbarn von ihren Autobahnen gewöhnt waren: die Tristesse der schmucklosen Zweckbauten, gepaart mit vollgemüllten Grünflächen und dem traurigen Geruch kalten Fritierfettes.

 

Über 200 Autogrills entstanden auf diese Weise, bis die Ölkrise 1970 die Party beendete. Die Autoindustrie und die daran gekoppelten Dienstleistungen gerieten ins Wanken, und so musste der italienische Staat 1970 einschreiten und Pavesi, Motta und Alemagna unter dem Namen Autogrill vereinen. Doch der Autogrill bekam in den 80er Jahren eine zweite Chance, als das italienische Wirtschaftswunder einen weiteren Höhepunkt erlebte. 1995 wurde das Unternehmen wieder privatisiert, die Familie Benetton gehört seither zu den Mehrheitseigentümern. Die Firma ist an der Mailänder Börse notiert, es gibt 4000 Filialen in 31 Ländern, 54 000 Mitarbeiter, eine Milliarde Kunden im Jahr.

 

Ja, die Grandezza variiert von Grill zu Grill, nicht alle Raststätten sind architektonische Höhepunkte oder hygienische Offenbarungen. Manchmal findet lediglich verhutzelte Gipfeli und überdimensionierte Piadiani, man sitzt Fliegen umsurrt an Resopalttischen und fragt sich, wer in aller Welt Nutella in fünf-Liter-Behältnissen kauft. Mittlerweile hat sich Autogrill mit Starbucks eingelassen, ist mit McDonalds ins Geschäft gekommen, aber, ach, egal.

 

Der Autogrill ist eine Metapher dafür, welchen Stellenwert Italiener ihrem Essen geben. Oft stehen nur Kleinigkeiten auf der Karte, doch die haben sie drauf: Pizza, Panini, Mini-Würstchen, Parmaschinken, Salami, Büffelmozzarella, fagiolini (Bohnensalat) oder gegrillte Aubergine. Mittlerweile haben sich die Autogrills im Slow-Food-Segment neu positioniert, das sensationelle KM90 zwischen Mailand und Bologna ist eigenes Ziel für Food-Touristen: Neben Mittagsgerichten kriegt man Salami, Parmaschinken, Parmesan, Lambrusco, Nudeln, einfach alles, was man für das gute Leben braucht.

 

Andere Nationen mögen blitzblanke Toiletten haben, die gepflegteren Autos, kostenlose Autobahnen –  mit den Autogrills lehren uns die Italiener, dass es selbst in der Einöde lohnt, seine eigenen Standards aufrechtzuerhalten. Denn sie haben schon längst begriffen: Würde ist keine Frage des Standortes, sondern der Haltung.

 

 

 

 

 

 

 

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