DSCF1335_V5.jpg

„Es geht darum, das richtige Wort
zu finden, nicht
seinen Cousin zweiten Grades.“

Mark Twain

Raus in die Kälte

Raus in die Kälte

Die Methode von Wim Hof soll Menschen durch Kälte in Rauschzustände versetzen – wie weit darf das gehen?

 

Als ich nach zwei Minuten aus dem eisigen Bach in einem Waldstück im Allgäu steige, sehe ich zwar aus wie ein begossener Pudel, doch ich innerlich fühle mich wie ein radioaktiver Schwan: strahlend. Unbesiegbar. Und, ein mir völlig neues Gefühl: im Einverständnis mit der Welt. Das Leben ist gut.   

 

Das Wasser ist grünblau, ein Wasserfall rauscht die dunklen Felsen herab, zwischen den Fichten liegt Schnee. Neben mir zittern eine Hebamme und zwei Studenten aus Chicago, einer von ihnen hat so weite Pupillen, als hätte er sich gerade einen Schuss gesetzt oder die Liebe seines Lebens geküsst. Am Rand des Eisbaches stehen Michael Nuss und seine Partnerin Rachel Babaganov und jubeln uns zu, als ob wir gerade die Mondlandung vollbracht hätten.

 

Michael und Rachel sind beide Wim-Hof-Trainer: die Methode soll den Weg zu „ungeahnter Kraft, Gesundheit und innerer Freiheit“ zu finden. Die beiden wichtigsten Punkte: Eisbaden und eine von Hof entwickelte Atemmeditation. Beides soll den Körper in sogenannten hormetischen Stress versetzen, indem man ihn gezielt reizt und ihn damit für die Schrecken des Alltags trainiert. Denn beim Eisbaden wird der Körper in einen solchen Alarmzustand versetzt, dass verschiedene Hormone ausgeschüttet werden: Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin – eine Steigerung von 250 bis 500 Prozent zum normalen Spiegel[1], was erklärt, warum wir derart euphorisiert aus dem Wasser kommen.

 

Die Wim-Hof-Atmung ist eine Weiterentwicklung der Tummo-Atmung, die seit über 1000 Jahren von tibetanischen Mönchen praktiziert wird und als „Feueratmung“ bezeichnet wird, weil es ihnen angeblich gelang, durch den Atem ihre Körpertemperatur zu steigern.[2][3] Bei Hof wird, vereinfacht gesprochen, eine Phase der Hyperventilation mit Phasen des Luftanhaltens abwechselt. Warm wird einem davon nicht, aber der Wechsel aus schneller Atmung und Luftanhalten setzt einen Stressreiz, der das sympathische Nervensystem aktiviert, das für Kampf- und Fluchtreaktionen zuständig ist. Dabei schüttet der Körper ebenfalls Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol aus.[4] Gleichzeitig wird in den der Parasympathikus angeregt – hinterher gelöst und wach zugleich ist.

 

 

Von all dem hatte ich keine Ahnung, als ich zufällig auf die Atmung stosse, nachdem ein Yogalehrer sie in sein Youtube-Video gemogelt hatte. Ich schnaufte mit und ging danach, eher untypisch, geradezu heiter durch den Tag –  und konnte mich beim Schreiben besser konzentrieren. Das klappte auch beim nächsten Versuch. Und beim Übernächsten. Bis ich feststellte: ich war hinterher nicht nur fröhlicher, sondern auch fokussierter. Oder, wie Wim Hof es selbst nennt: Get high on your on supply. Grob übersetzt: mach dir deine Drogen selber. Vom kalt duschen, Eisbaden oder, Gott bewahre, Schneewandern in Sommerkleidung bin ich zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt. Trotzdem frage ich mich: Was passiert da mit meinem Körper? Ist die Atmung ein Weg, um mich in bessere Stimmung zu bringen? Mehr Zuversicht, weniger Angst? Oder bin ich gerade auf dem Weg in die komplette Selbstverarschung?

 

Der 64-Jährige Wim Hof jedenfalls neigt nicht dazu, seine Methode unterzuverkaufen: „Sprenge Deine Grenzen und aktiviere Dein volles Potential“ etwa heisst der Untertitel seines Buches im klassischen Motivationstrainer-Sprech. Insgesamt ist der „Eismann“ nicht gerade der Typ, der zartbeseelte Geisteswissenschaftlerinnen wie mich vom Sofa reisst: stundenlange Bäder in Eiswürfeln, Tauchgänge unter Eisplatten, halbnackt am Mount Everest hinauf –  ist das nicht irgendein unangenehmes Männerbewährungsding? Und „mein Eisbad, meine Sandalenwanderung auf den höchsten Berg Afrikas, meine Atemtechnik“ nichts anderes als die New-Age-Edition von „mein Haus, mein Auto, meine Jacht“?

 

Eines steht jedenfalls fest: Der Niederländer ist ein Weltstar. Es gibt Bücher, Dokumentationen, unzählige Artikel und zahlreiche Studien über ihn und seine Methode. Er selbst hat nach dem Selbstmord seiner ersten Frau Olaya im Jahr 1995 Trost und neuen Lebenswillen beim Eisbaden gefunden, heute praktizieren Superstars wie Orlando Bloom, Oprah Winfrey[5] und Harrison Ford[6] seine Methode. 2022 fand er den Weg zusammen mit Gwyneth Paltrow zu Netflix, wo sie die Leistungssteigerung durch die Atmung erprobte und ihre Mitarbeiterinnen zum Eisbaden schickte, die ihrerseits völlig euphorisiert im Badeanzug durch den Schnee sprangen.

 

Doch ist es wirklich so, dass die Wim-Hof-Methode gegen Asthma helfen kann, gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Entzündungen, Übergewicht, Schlaflosigkeit und vor allem gegen psychische Leiden? Seine Anhänger jedenfalls sind fest davon überzeugt, dass Eisbäder und „Breathwork“ ihren mentalen Zustand verbessern; zudem gibt es einige Studien, die den Schluss erlauben, dass Eisbaden und Winterschwimmen gegen Depressionen helfen[7]. Kneipp-Kuren und Saunieren gehören seit Jahrhunderten zum Inventar des guten Lebens, nicht umsonst gelten die Finnen als chronisch glücklich[8]. Und, auch nicht zu unterschätzen: so ein Eisbad in der Natur oder das Abtauchen in einer mit Eiswürfeln gefüllten Wanne funktioniert auch auf TikTok: Shoppen kann jeder, Eisbaden nicht. Jetzt ist Härte und wortwörtliche Coolness die Währung der Stunde. Ob das die gesellschaftliche Antwort auf die Krisen der Gegenwart ist?

 

Michael Nuss und Rachel Babaganov sind viel zu freundlich, um bei dem Kurs den Drill-Instructor raushängen zu lassen. Ihre Aufgabe besteht darin, ängstliche und kälteempfindliche Teilnehmer des Seminars sanft auf die Reise mitzunehmen, ohne sie dabei zu überfordern, oder, Gott bewahre, ihre Gesundheit zu gefährden. Und so sehen sie zu, dass wir uns an die Kälte gewöhnen, dass wir nicht zu lange im Wasser bleiben und bei der Schneewanderung nicht auskühlen und genügend warme Kleidung für den Abstieg bei uns haben. Und die Atemmeditation – die knallt in der Gruppe noch mal besonders.

 

Immerhin muss ich nicht, wie mit Hof selber, durch einen Schneesturm in den Karpaten laufen, sondern durch den freundlich sonnenglitzernden Schnee des Allgäus. Also laufen wir den Mittagsberg hinauf, die amerikanischen Studenten oberkörperfrei voraus, ich in Unterhemd und Shorts. Unsere Spikes knirschen auf dem festgefrorenen Boden. Schlittenfahrer kommen uns entgegen, gut verpackt, wir hingegen ein Haufen gut gelaunter, halbnackter Irrer. Was soll ich sagen? Mir ist kalt. Kalt, aber nicht kaltkalt. Gänsehaut, aber kein Zähneklappern. Solange ich mich bewege, kann mein Körper die Kälte managen. Und genau darum geht es: festzustellen, dass der Körper einen inneren Thermostat hat, mit dem er sich an die Kälte anpassen kann. Nachdem ich jahrelang unter einem Berg von Schals, Ponchos, dicken Pullovern und Merinounterwäsche überwintert habe, lerne ich: mein Körper kann auch anders. Ich muss ihn nur lassen.

 

 

„What doesn’t kill us“ ist der Name des Buches, dass der der Reporter Scott Carney über die Wim-Hof-Methode geschrieben hat. Ursprünglich war er 2011 mit Hof in ein Kältecamp gegangen, um die Methode als Schmu zu enttarnen[9]. Doch Carney war so begeistert von Hof und der Kälte, dass er einen Bestseller über Eiswanderungen und Bodyhacking schrieb und Hof zu Weltruhm verhalf. Doch nach über zehn Jahren distanzierte er sich 2023 von seinem Freund. Auf seinem Youtube-Kanal warnt Carney eindringlich vor der dunklen Seite des Wim-Hof-Imperiums. Carney selber halte die Atmung und die Kälteexposition nach wie vor für hervorragend für die körperliche und seelische Gesundheit. Doch miteinander kombiniert seien sie auch hochgefährlich: seiner Recherche nach seien mindestens zwölf Menschen dabei gestorben, als sie im Wasser die Atmung geübt hätten.

 

Dazu muss man sagen: jedes Buch und jedes Tutorial von Hof und der Firma Inner Fire enthält den Disclaimer, dass man die Atemübungen nicht im Auto oder im Wasser machen sollte, und auch während des Eis-Retreats im Allgäu thematisiert Michael Nuss dieses Problem in aller Deutlichkeit. Dass man eine derart heftige Meditation nicht in der Badewanne praktizieren sollte, ist so selbsterklärend wie der Hinweis, den Hamster nicht in der Mikrowelle zu verstecken. Dennoch: zwölf Menschen sind dabei gestorben, und der Vater eines kalifornischen Teenagers hat Wim Hof und Inner Fire nun auf 67 Millionen Dollar verklagt, nachdem seine Tochter während einer Wim-Hof-Atmung im Pool ertrunken war.[10]

 

Die Liste der Kritikpunkte des ehemaligen Hof-Berichterstatters geht weiter: Wim selber sei so besessen, seine Grenzen zu sprengen, dass er einige seiner Gruppen auf Berggipfeln und in Schneestürmen ernsthaft in Gefahr gebracht habe. Ausserdem habe Hof die Atmung gar nicht erfunden, sondern von den Yogis geklaut, und Hydrotherapie gäbe es ebenfalls seit 200 Jahren. Obendrein habe Hof keine Ahnung von Physiologie, halte sich für einen Messias, habe ein Alkoholproblem und rauche wie ein Schlot. Die Methode sei super, aber Hof selber leider durchgeknallt, sein Fazit.

 

Hof mag viel Interviews geben reden, wenn der Tag lang ist, aber ist das wirklich so schlimm? Er ist weder Wissenschaftler noch Buchhalter noch PR-Fachkraft, sondern Abenteurer, Extremsportler, Typ schlampertes Genie, dem es gelungen ist, fast vergessene – und kostenlose – Techniken aus dem Fundus der Menschheit hervorzukramen und populär zu machen; die vielen unerschrockenen Eisbader in der Limmat sind sicher auch sein Verdienst. Denn um kalte Duschen und Eisbaden für die Masse runterzubrechen, braucht es vielleicht auch einen Spinner, der 35 Meter unter einer dicken Eisschicht taucht und sich dabei fast die Hornhaut kaputtfriert[11], jemand, der bereitwillig seine Zehen opfert, um in Sandalen den Kilimanjaro zu besteigen.[12] Zumal Hof freimütig zugibt, verrückt zu sein. Und ob die Atmung nun von den Tummo-Mönchen, den Yogis oder Hofs Grossmutter stammt – ist das nicht egal, wenn sie doch ein bisschen mehr gute Laune in die Welt bringt?

 

Womit wir bei der finalen Frage wäre: funktioniert die Methode denn nun? Einige Studien, die Hof zitiert, sind positiv bis enthusiastisch; dann gibt es wieder Kritik an den Methoden. Eine neuere kommt zu einem ernüchternden Schluss: Im Oktober 2023 stellte Sascha Ketelhut der Uni Bern fest, dass 15 Tage Wim-Hof-Training die psychische und Herz-Kreislauf-Gesundheit der Testpersonen nicht verbessert habe[13]. Doch hier haben die Probanten kalt geduscht und waren nicht im Eisbad, was einen starken Unterschied beim Adrenalinaussstoss macht.

 

Da kommt Anfang Januar 2024 eine weitere Studie heraus: der Neurologe Otto Muzik von der Universität in Detroit hat über einen Zeitraum von sechs Wochen mehrere hochmoderne Hirnscans von Menschen angefertigt, die die Wim-Hof-Methode praktiziert haben.  Das Ergebnis: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine relativ kurze 6-wöchige Intervention positive Auswirkungen auf Hirnmarker hat, die mit Stressresistenz, Stimmung und Angst (…) in Verbindung gebracht werden.“[14]

 

Also doch. Oder ist das Sample zu klein, vier Männer zu wenig? Was ist mit meiner stabilen Laune? Und all den anderen, denen es nach den Eisbädern und der Atmung besser ging? Sind wir ganz umsonst in den Zaubertrank gestiegen? Als ich vom Retreat nach Hause komme, Weihnachten bei den Buddenkuhrts steht vor der Tür, müssen mein Mann und ich feststellen, dass jemand versucht hat, nachts die Scheibe vom Wohnzimmerfenster mit einem Stein einzuschlagen. Da stehen wir, die Polizeibeamten wickeln den Stein in Plastik, nehmen unsere Zeugenaussagen. Liebe oder Hass, Wahn oder Vandalismus? „Das ist so lächerlich“, sage ich in völlig ungewohnter Coolness und der Orkan, er bleibt einfach aus.

 

[1] https://www.youtube.com/watch?v=pq6WHJzOkno&t=2336s

[2] https://www.zeitschrift-sportmedizin.de/atemtraining-bessere-leistung-durch-sparsameres-atmen/2

[3] https://www.snopes.com/fact-check/harvard-study-confirms-tibetan-monks-can-raise-body-temperature-with-their-minds/

[4] https://www.zeitschrift-sportmedizin.de/atemtraining-bessere-leistung-durch-sparsameres-atmen/2/

[5] https://www.thesun.co.uk/tv/17853698/wim-hoff-celebrity-friends-orlando-bloom-oprah-winfrey/

[6] https://www.instagram.com/p/BbK8g8clxwb/

[7] https://www.nytimes.com/2022/02/20/well/mind/cold-water-plunge-mental-health.html

[8] https://www.spiegel.de/ausland/finnland-wie-wird-man-zum-gluecklichsten-land-der-welt-a-3897d914-b2df-4423-a5be-7de5ee8dcd91

[9] https://www.scottcarney.com/public-speaking

[10] https://unicourt.com/case/ca-la23-raphael-metzger-vs-wim-hof-et-al-951604

[11] https://www.youtube.com/watch?v=Yw4ykO89Q70

[12] https://kickasstrips.com/2014/01/wim-hof-the-iceman-climbs-mount-kilimanjaro-wearing-only-shorts-and-sandals/

[13] https://www.nature.com/articles/s41598-023-44902-0

[14] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S294983412300034X

Auto-Korrektur

Auto-Korrektur